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Üben mit VR: Schwangere mit Adipositas respektvoll betreuen
02.10.2025 Viele schwangere Frauen mit Adipositas erleben im Gesundheitssystem Stigmatisierung. Die BFH entwickelt ein VR-Trainingsprogramm, das Fachpersonen dabei unterstützt, eine personzentrierte Betreuung zu gestalten, die nicht das Gewicht, sondern die individuellen Bedürfnisse, Erfahrungen und Werte der Frau in den Mittelpunkt stellt.
Das Wichtigste in Kürze
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Viele schwangere Frauen mit Adipositas erleben im Gesundheitssystem Stigmatisierung, was ihr Wohlbefinden und die geburtshilfliche Versorgung beeinträchtigt.
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Personzentrierte Betreuung stellt die individuellen Bedürfnisse, Werte und Erfahrungen der Frau in den Mittelpunkt – nicht ihr Gewicht.
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Das BFH-Forschungsprojekt RESET setzt auf VR-Trainings, um Fachpersonen für stigmabewusste Kommunikation zu sensibilisieren und eine respektvolle Versorgung zu fördern.
In der Schweiz ist etwa jede zehnte Frau im gebärfähigen Alter von Adipositas betroffen – mit steigender Tendenz (MonAM, BAG, 2024). Damit gewinnt die Frage an Bedeutung, wie Schwangere mit höherem Körpergewicht fachlich fundiert und zugleich stigmabewusst betreut werden können.
Erhöhte Risiken für Komplikationen wie Schwangerschaftsdiabetes oder Bluthochdruck sind nur ein Teil der Herausforderungen während der Perinatalzeit (Aubry et al., 2019). Viel gravierender wirken oft die psychosozialen Belastungen durch gewichtsbezogene Stigmatisierung – insbesondere, wenn sie von Fachpersonen ausgeht.
Stigmatisierung als Barriere für gute Versorgung
Dabei sind mangelnd angepasste Infrastruktur, abwertende Kommentare im klinischen Alltag oder internalisierte Schuldgefühle für viele Frauen mit Adipositas leider Alltag. Sie erleben häufig, dass ihre Beschwerden auf ihr Gewicht reduziert oder gar bagatellisiert werden. Sie berichten von fehlender Empathie, übertriebener Risikokommunikation und dem Gefühl, auf ihren Körper reduziert zu werden (Aubry et al., 2024). Diese Erfahrungen untergraben nicht nur das Vertrauen in das Gesundheitssystem, sondern können auch zu Versorgungslücken führen – etwa, wenn Gesundheitsangebote aus Angst vor Abwertung gemieden werden. Das Erleben von Stigmatisierung geht ebenfalls einher mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für medizinische Interventionen während der Geburt und schlechteren geburtshilflichen Outcomes (Schwenk et al., 2024).
Personzentriert statt gewichtsfixiert
Was bedeutet in diesem Kontext personzentrierte Versorgung? Nicht das Körpergewicht der Frau oder pauschale Risikokategorien sollten in der Betreuung im Vordergrund stehen, sondern ihre individuellen Bedürfnisse, Werte und Erfahrungen. Besonders bei Schwangeren mit Adipositas ist ein solcher Ansatz zentral, um Zuschreibungen zu vermeiden und eine gleichwertige Betreuung zu ermöglichen. Eine solche Betreuung erkennt die vielfach dokumentierten Stigmatisierungserfahrungen dieser Frauen an und begegnet ihnen mit Respekt, Empathie und Offenheit. Sie fördert die aktive Einbeziehung der Frau in Entscheidungen, achtet ihre Autonomie und stärkt ihre Handlungskompetenz. Frauen mit Adipositas fühlen sich dann am besten betreut, wenn sie wie jede andere Schwangere behandelt werden – mit zusätzlicher Sensibilität gegenüber ihren bisherigen Erfahrungen mit Ausgrenzung und Diskriminierung (Aubry et al., 2024).

Erfahrungen aus der Praxis
Eine Umfrage der BFH unter über 1300 Frauen, die in den letzten Jahren in der Schweiz geboren haben, zeigt: Stigmatisierende Erfahrungen in Schweizer Geburtskliniken waren gerade bei Schwangeren mit Adipositas weit verbreitet. In manchen Fällen fehlte es an geeignetem Equipment wie ausreichend grossen Untersuchungsliegen oder geeigneten Waagen, in anderen an sensibilisiertem Personal. Frauen beschrieben, dass sie sich nicht willkommen gefühlt hätten oder von Beginn an in eine Risikokategorie eingeordnet worden seien. Das Erleben von Stigmatisierung während der Geburt konnte mit einer erhöhten Kaiserschnittrate assoziiert werden (Schwenk et al., 2024).
Stigmabewusste Praxis: Empfehlungen aus Forschung und Versorgung
Eine stigmabewusste, personzentrierte Betreuung beginnt mit der professionellen Selbstreflexion: Welche Vorstellungen habe ich selbst zu Gewicht und Gesundheit? Wie beeinflussen diese meine Kommunikation und mein Verhalten gegenüber Schwangeren mit Adipositas? Hier setzt das BFH-Forschungsprojekt RESET an. Mithilfe einer virtuellen Realität (VR)-basierten Schulung werden realitätsnahe Beratungssituationen mit KI-gesteuerten Avataren simuliert. Fachpersonen üben darin eine stigmabewusste Gesprächsführung und reflektieren ihre Haltungen im geschützten Raum. Ziel ist es, personzentrierte Kommunikation zu stärken und im klinischen Alltag zu verankern.
Fachpersonen sollten Empfehlungen zu Lebensstil und Gesundheit konsequent an den Lebensrealitäten der Frauen ausrichten. Alltagsnahe, flexible Ratschläge stärken ihre Autonomie und fördern das Vertrauen in die Betreuung. Statt einer defizitorientierten Risikorhetorik braucht es einen offenen Dialog, der gemeinsame Entscheidungsprozesse ermöglicht. Das BFH-Forschungsprojekt OPTIMAM unterstützt diesen Ansatz, indem es ein Rahmenkonzept für transparente, partizipative geburtshilfliche Entscheidungsfindung entwickelt – und so die Grundlage für eine qualitativ hochwertige, personzentrierte Versorgung von Frauen mit Adipositas rund um die Geburt schafft (Wyss et al., 2025).
Eine nachhaltige Veränderung gelingt nur, wenn personzentrierte, stigmafreie Betreuung auch strukturell verankert wird: in Aus- und Weiterbildungen, Leitlinien und Standards. Das interdisziplinäre Netzwerk Adipositas der BFH arbeitet daran, diese Haltung in Forschung, Lehre und Praxis zu fördern. Die gemeinsame Vision: Eine Versorgung, die die Würde jeder Person achtet, ihre individuellen Stärken erkennt und nicht auf das Körpergewicht reduziert.
Literatur
Personzentrierte Gesundheitsversorgung – Vision oder Realität?
Personzentrierte Versorgung stellt die individuellen Bedürfnisse, Werte und Lebensumstände der Patient*innen ins Zentrum medizinischer Entscheidungen. Sie gilt als Schlüssel zu einer menschlicheren, wirksameren und nachhaltigeren Gesundheitsversorgung, doch der Weg dorthin ist komplex. Zwischen Idealbild und Alltagspraxis gilt es, Chancen und Hürden realistisch abzuwägen: Wie lassen sich Strukturen, Abläufe und Haltungen verändern, um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen? Unsere Beiträge zeigen anhand konkreter Projekte, wo dies bereits gelingt, welche Stolpersteine es noch zu überwinden gilt und welche Schritte nötig sind, um Person-centered Care im Gesundheitswesen zu verankern.