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Personzentrierte Versorgung – vom Pilotprojekt in die Praxis?

22.09.2025 Personzentrierte Gesundheitsversorgung ist ein Paradigmenwechsel, weg von der Betrachtung einzelner Krankheiten. Bei der Entwicklung stellt sich die Frage: Sind personzentrierte Modelle so skalierbar, dass sie überlebensfähig sind?

Das Wichtigste in Kürze

  • Personzentrierte Modelle funktionieren oft im Pilotversuch, verlieren aber in der breiten Versorgung an Wirkung, u. a. wegen fehlender Anreize, unpassender Infrastruktur oder kultureller Unterschiede.

  • Erfolg braucht Prinzipien: Wirksamkeit muss kritisch geprüft, Vielfalt der Bevölkerung berücksichtigt und digitale Lösungen sinnvoll integriert werden. 

  • Interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie unternehmerische Projekte zeigen, wie Forschungserkenntnisse praktisch umgesetzt und skaliert werden können.

Eine zentrale Herausforderung bei der Entwicklung von personzentrierten Modellen besteht darin, dass Interventionen zwar in kontrollierten Umgebungen gut funktionieren und erprobt werden können, ihre Wirkung jedoch verlieren, sobald sie in der breiten Versorgung eingesetzt werden. Die finanziellen Anreize stimmen nicht überein, die Infrastruktur ist anders oder kulturelle Unterschiede führen dazu, dass neue Technologien nicht zur Anwendung kommen. Das wirft die Frage auf: Können personzentrierte Versorgungsmodelle überhaupt langfristig überlebensfähig sein? Der Ökonom John List (2022) hat mit dem sogenannten Voltage-Effekt Prinzipien beschrieben, die entscheidend dafür sind, ob Ideen und Geschäftsmodelle tragfähig sind. Mithilfe dieser Prinzipien können Skalierungsherausforderungen formuliert werden, die für skalierbare personzentrierte Versorgungsmodelle notwendig sind.

Swiss Drug Pricing Modell

Wirksamkeit sichern

Statistische Fehler oder die Auswahl der Pilotteilnehmer*innen können dazu führen, dass eine Intervention, die tatsächlich nicht wirksam ist, im Pilotversuch fälschlicherweise als wirksam eingeschätzt wird. Ein Beispiel für einen solchen Irrtum war die Nutzung von Vitamin E nach Herzinfarkt (Marchioli et al., 2006). Wichtig ist, die Pilotteilnehmer*innen genau zu kennen, falsch-positive Ergebnisse nicht auszuschliessen und auch erwünschte Ergebnisse kritisch zu hinterfragen.

Vielfalt der Bevölkerung berücksichtigen

Menschen haben unterschiedliche kulturelle Hintergründe, Lebenslagen und Gesundheitsbedürfnisse. Ein skalierbares Versorgungsmodell muss breit aufgestellt sein, aber auch Raum für individuelle Anpassung lassen. Ergebnisse der personzentrierten Versorgung sind meist komplexer als rein medizinische Produkte, weshalb passende Richtlinien und neue Wirksamkeitsmessungen benötigt werden.

Technik und Prozesse gut integrieren

Viele neue personzentrierte Versorgungsmodelle setzen auf digitale Lösungen, weil sie individualisierte Entscheidungen ermöglichen. Diese müssen in bestehende Systeme eingebunden werden, damit sie im Alltag funktionieren – besonders bei einer grossen Anzahl von Patient*innen. Fragen zu Datenschutz, Qualität und Finanzierung müssen frühzeitig geklärt werden, da der rechtliche Rahmen oft unklar ist. 

Veränderungen im Verhalten mitdenken

Personzentrierte Versorgung verändert das individuelle Verhalten und die Rollen. Fachpersonen werden zu Begleitenden, Patient*innen übernehmen mehr Verantwortung. Dafür braucht es neue Kompetenzen auf beiden Seiten. 

Gutes Zusammenspiel im Team fördern

Personzentrierte Versorgung ist Teamarbeit. Verschiedene Berufsgruppen, Patient*innen und Angehörige müssen gut zusammenarbeiten, auch wenn sie unterschiedliche Ziele und Werte haben.

Kosten und Nutzen im Blick behalten

Neue Versorgungsmodelle sollten nicht nur besser, sondern auch effizienter sein. Digitale Tools und Zusammenarbeit können helfen, die Kosten pro Patient*in zu senken. Allerdings sind Tarifsysteme wie SwissDRG und TARMED auf einzelne Leistungsbereiche (Spital, ambulant, Langzeitpflege) ausgelegt und belohnen keine ganzheitliche Betreuung. Hier braucht es Anpassungen, um langfristig Anreize für Personzentrierung zu schaffen. 

Verbindung von Forschung, Praxis und Unternehmertum im Gesundheitswesen

Die Gesundheitsforschung kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Skalierungsherausforderungen zu bewältigen. Sie stellt Methoden zur Verfügung, mit denen neue Ansätze systematisch bewertet werden können und prüft, ob sie auch bei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen wirken (siehe Tabelle). Die Implementierungsforschung untersucht, welche Faktoren eine erfolgreiche Skalierung fördern oder behindern. Die Gesundheitsökonomie wiederum zeigt auf, ob ein Modell kosteneffizient ist und wie es langfristig finanziert werden kann. Wichtig dabei ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Gesundheitsfachpersonen, Regulierungsbehörden, Kostenträgern und Technologieentwicklern, denn nur so gelingt der Übergang von der Theorie in die Praxis.
 

Methodische Lösungsansätze der Gesundheitsforschung bezüglich Skalierungsherausforderungen personzentrierter Versorgungsmodelle

Methodische Lösungsansätze der Gesundheitsforschung bezüglich Skalierungsherausforderungen personzentrierter Versorgungsmodelle Bild vergrössern

Unternehmerische Projekte am Departement Gesundheit

DELIA
Das Projekt richtet sich an Menschen ab 65 Jahren und möchte mithilfe einer App Lebensstilveränderungen bei der Zielgruppe erreichen. Es zeigt, wie zentrale Hürden bei der Umsetzung überwunden werden können: durch Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen, wissenschaftlich geprüfte Inhalte, freie Zugänglichkeit und einen flexiblen Aufbau. DELIA ergänzt bestehende Angebote und legt so die Grundlage dafür, dass es auch im gesamten Gesundheitssystem eingesetzt werden kann.

Bee Healthy
Dieses Projekt unterstützt ukrainische Kinder bei Strategien im Umgang mit Stress und Belastung. Die dafür entwickelte App wurde gemeinsam mit den Zielgruppen entwickelt, ist in mehreren Sprachen verfügbar und lässt sich über das Smartphone nutzen. Damit verbessert sie den Zugang für besonders verletzliche Gruppen (Gorbunova et al., 2025). Die grössten Herausforderungen: Die Inhalte sind stark auf eine bestimmte Zielgruppe zugeschnitten, die Technik muss für mehr Menschen verfügbar gemacht werden und es braucht noch umfassende Wirksamkeitsnachweise.
 

Personzentrierte Gesundheitsversorgung – Vision oder Realität?

Personzentrierte Versorgung stellt die individuellen Bedürfnisse, Werte und Lebensumstände der Patient*innen ins Zentrum medizinischer Entscheidungen. Sie gilt als Schlüssel zu einer menschlicheren, wirksameren und nachhaltigeren Gesundheitsversorgung, doch der Weg dorthin ist komplex. Zwischen Idealbild und Alltagspraxis gilt es, Chancen und Hürden realistisch abzuwägen: Wie lassen sich Strukturen, Abläufe und Haltungen verändern, um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen? Unsere Beiträge zeigen anhand konkreter Projekte, wo dies bereits gelingt, welche Stolpersteine es noch zu überwinden gilt und welche Schritte nötig sind, um Person-centered Care im Gesundheitswesen zu verankern.

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