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EssEntial: Kochen lernen für mehr Selbstbestimmung

06.10.2025 Ein neues Forschungsprojekt der BFH will junge Erwachsene mit kognitiver Beeinträchtigung dabei unterstützen, gesünder und selbstbestimmter zu leben. Mit einem praxisnahen Koch- und Ernährungsprogramm soll die Eigenständigkeit gestärkt werden.

Das Wichtigste in Kürze

  • «EssEntial» stärkt junge Erwachsene mit kognitiver Beeinträchtigung in ihren Kochkompetenzen.
  • Das Programm wird gemeinsam mit der Zielgruppe und Betreuungspersonen entwickelt und in vier Kantonen (BE, ZH, LU, SZ) erprobt.
  • Mit praxisnahen Materialien soll «EssEntial» langfristig in Institutionen verankert und breit nutzbar gemacht werden.
     

Viele Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung wünschen sich ein selbstbestimmtes Leben mit mehr Freiheit und Verantwortung im Alltag. Doch gerade beim Thema Ernährung zeigt sich ein Spannungsfeld: Wer unabhängiger lebt, ernährt sich häufig ungesünder. «Die Folge sind gesundheitliche Risiken wie Übergewicht oder Diabetes, die in dieser Bevölkerungsgruppe besonders häufig auftreten», erklärt Projektleiterin Franziska Pfister. Vor diesem Hintergrund entstand das BFH-Forschungsprojekt EssEntial. Es zielt darauf ab, jungen Erwachsenen mit kognitiver Beeinträchtigung das nötige Wissen und praktische Kompetenzen zu vermitteln, um Mahlzeiten selbstständig zuzubereiten und ausgewogen zu essen. «Auf diese Weise wollen wir zu ihrer langfristigen Selbständigkeit beitragen», so Pfister. 

Kochen für mehr Selbstbestimmung bei Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung

Von Betroffenen für Betroffene mitgestaltet

Ein zentrales Merkmal von EssEntial ist der partizipative Ansatz: Das Programm wird nicht nur für, sondern gemeinsam mit der Zielgruppe entwickelt. Bereits im Sommer 2025 fanden Fokusgruppen statt, um die Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen zu erfassen. «Jetzt begleitet uns eine kleine Gruppe von zwei bis drei Personen aus der Zielgruppe aktiv bei der Entwicklung. Sie bringen ihre Perspektiven bei Planung, Umsetzung und Weiterentwicklung des Programms ein. Ihre Stimme zählt, sie bestimmen mit, wie ‘EssEntial’ ausgestaltet werden soll», erklärt Franziska Pfister. Auch Betreuungspersonen der beteiligten Institutionen sind eng eingebunden. In Workshops gaben sie ihre Erfahrungen weiter und begleiten die Teilnehmenden während der Umsetzung. Damit leisten sie einen Beitrag zur Qualitätssicherung und dazu, dass das Programm nachhaltig in den Institutionen verankert werden kann.
 

«EssEntial soll nicht nur jetzt Wirkung zeigen, sondern langfristig weiterentwickelt und verbreitet werden.»

  • Franziska Pfister Ernährungswissenschaftlerin und Projektleiterin EssEntial

Pilotphase in vier Kantonen

EssEntial wird in vier Organisationen in den Kantonen Bern, Zürich, Luzern und Schwyz in Zusammenarbeit umgesetzt. Das sind die Wohnschule Aurora der Stiftung Bad Heustrich, die Stiftung Brändi, die Insieme Wohnschule Zürich und die BSZ Stiftung. «Wir wollen wissen, ob das Programm seine Ziele erreicht», erklärt Pfister. Dafür werden die Module in der Praxis getestet und wissenschaftlich evaluiert. Die erarbeiteten Materialien – praxisnahe Unterlagen und ein evidenzbasiertes Ernährungsprogramm – sollen nicht nur den teilnehmenden Institutionen, sondern auch anderen interessierten Organisationen und Fachkreisen wie Ernährungsberater*innen zur Verfügung gestellt werden.
 

Nachhaltige Wirkung angestrebt

Das Projekt ist darauf ausgelegt, auch nach Ende der Förderphase Wirkung zu entfalten. «EssEntial soll nicht nur jetzt Wirkung zeigen, sondern langfristig weiterentwickelt und verbreitet werden», betont Pfister. Denkbar sind Anwendungen in heilpädagogischen Schulen oder Ausbildungsformaten für Küchenfachpersonen mit Beeinträchtigung. Auch Schulungen für Sozialpädagog*innen ist eine Möglichkeit, die geprüft wird. 
 

Förderung durch das EBGB

Unterstützt wird das Projekt vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB). Dort wird insbesondere der innovative und partizipative Charakter von EssEntial gelobt. «Das Projekt unterstützt Menschen mit kognitiven Behinderungen bei einer selbständigen und selbstbestimmten Lebensführung rund ums Thema Essen und Ernährung. Es zeigt ein vorbildliches Zusammenspiel zwischen Forschung und Anwendung in der Praxis», heisst es seitens des EBGB. Langfristig könne EssEntial sowohl lebenspraktische Fertigkeiten vermitteln als auch die Teilnehmenden in ihrer Selbstbestimmung stärken.
 

«Im Alltag fehlen oft klare Strukturen und das Bewusstsein dafür, wie wertvoll eine ausgewogene Ernährung ist. Viele Bewohner*innen greifen dabei auf zwei bis drei vertraute Gerichte zurück und entscheiden sich häufig nach dem Lustprinzip.»

  • Remo von Känel Wohnschulleiter Wohnschule Aurora der Stiftung Bad Heustrich

Stimmen aus den Institutionen

Auch die beteiligten Wohnschulen sehen im Projekt grosses Potenzial. Remo von Känel, Wohnschulleiter der Wohnschule Aurora in Spiez, betont, dass gesunde Ernährung ein entscheidender Baustein für mehr Selbständigkeit sei, jedoch oft eine grosse Hürde darstelle. «Im Alltag fehlen oft klare Strukturen und das Bewusstsein dafür, wie wertvoll eine ausgewogene Ernährung ist. Viele Bewohner*innen greifen dabei auf zwei bis drei vertraute Gerichte zurück und entscheiden sich häufig nach dem Lustprinzip. Die Vielfalt geht dadurch verloren, was die Selbständigkeit langfristig erschwert», erklärt er. 

Zwar existiere bereits eine Kochbegleitung, doch das Interesse übersteige die vorhandenen Ressourcen. Hier könne «EssEntial» neue, niederschwellige Angebote schaffen. Barrierefreie, alltagstaugliche Materialien, wie ein digitales Koch-Tool oder ein leicht verständliches Kochbuch, sollen Bewohner*innen dabei unterstützen, ihre Ernährung abwechslungsreicher und eigenverantwortlicher zu gestalten. «Eine stärkere Routine im Kochen und ein wachsendes Repertoire an einfachen, gesunden Rezepten wären konkrete Erfolge», sagt er. 

Auch pädagogisch birgt das Projekt laut von Känel grosses Potenzial. Durch das Projekt würden Ernährungskompetenz, Selbstwirksamkeit und soziale Teilhabe gleichermassen gestärkt. «Indem Klient*innen lernen, einfache und gesunde Mahlzeiten selbstständig zu planen und zuzubereiten, erleben sie Kontrolle über ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden. Gemeinsames Kochen und Essen fördern zudem Austausch, Zugehörigkeit und das Erleben von Gemeinschaft», fasst von Känel zusammen.
 

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