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Generationenleitbilder zwischen Anspruch und Wirklichkeit
30.09.2025 Nicht einfach aneinander vorbei leben, sondern das Zusammenleben von Jung und Alt gestalten: dies kann sich für Gemeinden unabhängig von ihrer Grösse lohnen. Ein Vernetzungsanlass der BFH zeigte, ein Generationenleitbild auszuarbeiten, ist unter Umständen aufwändig. Was braucht es, damit Aufwand und Wirkung in einem angemessenen Verhältnis bleiben?
Das Wichtigste in Kürze
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Auch in kleinere Gemeinden brauchen eine Generationenpolitik, unabhängig davon, ob ein Leitbild besteht oder nicht.
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Generationenpolitik setzt bei der Beziehungsebene an und kann die Solidarität und Gerechtigkeit zwischen den Generationen stärken.
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Der Anspruch eines Generationenleitbilds kann unterschiedlich hoch angesetzt werden, die eigentliche Herausforderung liegt in der Umsetzung.
Mitten im Gespräch erinnert Markus Schweizer, Mitglied der Kirchberger Kommission für Altersfragen, an Mani Matters Lied «D Chue am Waldrand»: die Geschichte eines Malers, der sich so lange mit der Gestaltung des Vorder- und Hintergrundes beschäftigt, bis sich die Kuh, sein eigentliches Hauptmotiv, aus dem Staub gemacht hat. So wie diesem Maler könne es auch Politiker*innen bei der Ausarbeitung eines Generationenleitbildes ergehen, mahnt Markus Schweizer. Wenn sie sich zu sehr in den Details verlören, an Handlungsfeldern, Zielen und Massnahmen feilten, riskierten sie, die Bedürfnisse der Bevölkerung aus den Augen zu verlieren.
Diese Erkenntnis teilte er mit anderen Gemeindevertreter*innen, die am Vernetzungsanlass über kommunale Generationenleitbilder diskutierten. Allen Anwesenden war der anspruchsvolle Balanceakt zwischen Strategieerarbeitung und Umsetzungsprozess bewusst, jedoch ging jede Gemeinde die Herausforderung anders an.

Glarus war 2016 wohl die erste Gemeinde in der Schweiz, die ein Generationenleitbild lancierte. Andrea Trummer, Gemeinderätin und Landrätin, verantwortete diesen langjährigen Prozess von Anfang an. Die Umstände waren damals günstig. Nach der grossen Gemeindefusion im Kanton Glarus von 2011 herrschte Aufbruchstimmung. Man wollte die institutionellen Veränderungen auch auf gesellschaftlicher Ebene angehen und nutzte das Projekt Generationenleitbild als politisches Instrument, damit sich die fusionierten Gemeinden näherkommen.
Während zweier Jahren wurde – mit beträchtlichem finanziellem Aufwand und intensiver Beteiligung der rund 12 000 Einwohner*innen – ein Dialogprozess geführt, der nicht nur alle Generationen, sondern auch alle gesellschaftlichen Sektoren in einen Austausch brachte. Man sei ergebnisoffen an die Aufgabe herangegangen, berichtet Andrea Trummer rückblickend. Die einzige Bedingung war, dass in jedem Handlungsfeld der Zusammenhalt zwischen den Generationen ins Zentrum gestellt werden müsse.
Begleitung für Gemeinden
Das Institut Alter der BFH unterstützt Gemeinden in Alters- und Generationenfragen. Während Altersleitbilder die ältere Bevölkerung ins Zentrum rücken, fokussieren Generationenleitbilder auf den übergreifenden Zusammenhalt der Generationen. Dadurch kann aus einer ganzheitlichen Betrachtung heraus die Alterspolitik in die Sozialpolitik eingebettet werden. Die Autor*innen begleiteten die Gemeinden Aefligen, Kirchberg, Lyssach und Rüti bei Lyssach im Erarbeitungsprozess des Generationenleitbilds. Der hier dargelegte Vernetzungsaustausch zu Generationenleitbildern geht auf ihre Initiative zurück.
Fast zehn Jahre nach der Verabschiedung des Generationenleitbilds blickt Andrea Trummer zufrieden auf die Resultate zurück. Seit 2022 gibt es eine 40-prozentige Fachstelle Generationen und Kultur, die als koordinierende Schnittstelle zwischen den verschiedenen Akteur*innen fungiert. Zudem sei die Nachbarschaftshilfe ein Erfolgsmodell. Die Gemeinde hat mit Vereinen Leistungsverträge abgeschlossen und gibt gemeindeeigenes Land unter der Auflage ab, dass generationenübergreifender Wohnraum zu schaffen ist.
Der vielleicht grösste Erfolg ist laut Andrea Trummer die hohe Verbindlichkeit, die die Gemeinde durch die strukturelle Verankerung des Generationenleitbildes erlangte habe. Dieses befinde sich auf gleicher Ebene wie ein Richtplan und werde als tragende Säule der Gemeindeentwicklung betrachtet. Die Herausforderung liege jedoch in der Finanzierung. So müsse die Fachstelle bei Sparrunden verteidigt werden, da manche die Ansicht verträten, gesellschaftliches Leben sei nicht Gemeindeaufgabe. In solchen Situationen helfe es, dass sie sich als Gemeindrätin auf ein breit abgestütztes und strukturell gut verankertes Generationenleitbild berufen könne.

Im Jahr 2022 machten sich die Thunerseegemeinden Heiligenschwendi, Hilterfingen und Oberhofen daran, ein Generationenleitbild zu erstellen. Begleitet wurden sie von «UND Generationentandem», einer Institution, die den Prozess als engagierter regionaler Akteur leitete. Ihr Geschäftsleiter Elias Rüegsegger und ihr Vorstandsmitglied Fritz Zurflüh gaben am Vernetzungsanlass Einblick in das Vorgehen. Am Anfang stand demnach eine Spurgruppe, die sich aus Interessensträger*innen und Generationenvertretenden zusammensetzte. Sie entwickelte einen «Themenschatz», indem sie Personen aller Generationen befragte und diese auf einer Website porträtierte. Der anschliessende Mitwirkungsanlass stellte dank der intensiven Beteiligung der Bevölkerung den eigentlichen Höhepunkt des Prozesses dar.
Den gesamten Prozess prägte demnach eine Abwägung zwischen dem «big picture» und den «low hanging fruits»: Innert kürzester Zeit lagen Umsetzungsideen auf dem Tisch, aber gleichzeitig wurden auch Hindernisse bei der politischen Realisierbarkeit erkennbar. Entsprechend knapp habe man dann das Leitbild gehalten und mit raschen Massnahmen versucht, schon möglichst früh erste «Früchte» zu ernten. Dazu gehören etwa ein Ping-Pong-Tisch am See oder ein Generationengarten – niederschwellige Begegnungsräume, die zum Austausch einladen. Gleichzeitig arbeitete man laut den Vertretern von «UND» an den Strukturen, schuf einen Generationenrat und erreichte die Finanzierung einer Fachstelle (10 %) für drei Jahre.
Zu Beginn schwebte der Spurgruppe ein Generationenvertrag vor: eine Art Gesellschaftsvertrag, der das Gemeinsame über das Individuelle gestellt und die politischen Gemeinden stärker in die Pflicht genommen hätte. Man habe um die Problematik der Unverbindlichkeit von Leitbildern gewusst, meinten die Vertreter von «UND». In den Thunersee-Gemeinden habe man deshalb in gemeinsamer Verantwortung am Zusammenleben arbeiten wollen. Ganz soweit sei es leider nicht gekommen. Das vorliegende Leitbild verstehen die Vertreter von «UND» deshalb nicht als Schlusspunkt, sondern als Doppelpunkt: als Start in eine engagierte Zukunft mit vielfältigen Aktivitäten.

Etwa zeitgleich mit den Gemeinden am Thunersee initiierten vier Gemeinden im unteren Emmental ein gemeinsames Generationenleitbild. Am Austauschtreffen nahm eine ganze Reihe Beteiligter teil: aus Kirchberg Andrea Capelli und Markus Schweizer, aus Lyssach Corinne Lehmann und aus Rüti bei Lyssach Michaela Beer und Ruth Dreier. Ursprünglich hatte man ein Altersleitbild im Auge. Die politisch Verantwortlichen entschieden sich jedoch früh für ein Generationenleitbild, um das Zusammenleben der verschiedenen Generationen ins Zentrum zu stellen und alle Altersgruppen einzubeziehen. Auch hier wurde eine Spurgruppe mit Personen aus allen Generationen und Gemeinden ins Leben gerufen, die relevante Handlungsfelder, Ziele und Massnahmen definierte.
Die interkommunale Zusammenarbeit war im Gemeindeverband neu und bot eine doppelte Chance: Erstens profitieren alle Gemeinden von einem breit abgestützten Leitbild. Für eine kleine Gemeinde wie Rüti mit nur gerade 170 Einwohner*innen war dies zweitens die einzige Möglichkeit, einen solchen Leitbildprozess durchzuführen. Das Leitbild brachte aber auch Herausforderungen mit sich: Für die Anwendung in der Region sollte es möglichst konkret sein, gleichzeitig durfte es nicht zu eng formuliert sein, damit jede Gemeinde daraus ihre eigenen Massnahmen ableiten kann. Es musste zudem der Realität der Kleinstgemeinde Rüti und der grösseren Gemeinde Kirchberg mit knapp 6000 Einwohner*innen gerecht werden.
Ein knappes Jahr nach der Erarbeitung des Leitbilds zeigt sich, dass der Erfolg der Umsetzung weniger von dessen Konkretisierungsgrad abhängt, sondern eher von der Nähe zur Politik. Wo Gemeinderät*innen an der Erarbeitung beteiligt waren, liegen bereits erste Umsetzungsschritte vor. So wurde in Rüti eine Waldbegehung mit dem Revierförster für Jung und Alt durchgeführt. In Lyssach fügte sich das im Sommer fünfmal geöffnete Fyrabe-Beizli rasch in die Dorfkultur ein. In Kirchberg hingegen wartet man auf einen Auftrag des Gemeinderates. Der entworfene politische Planungsprozess sei aufgrund kommunaler Neuwahlen noch nicht umgesetzt, erklärte Alterskommissionsmitglied Markus Schweizer. So sei das neue Generationenleitbild für die Bevölkerung noch nicht wirklich spürbar. Mit dem Bau des Oberstufenzentrums «Campus 25+» biete sich in Kirchberg aber die einmalige Chance, Raum für alle Generationen zu schaffen. Womit Mani Matters Lied mit der verschwundenen Kuh zum Glück doch nicht ganz zutreffe.

Auch in Worb stand ein Generationenleitbild auf der politischen Agenda. Da bereits ein Jugendkonzept bestand und 2023 ein Alterskonzept verabschiedet wurde, wünschte sich Gemeinderätin Karin Waber ein Generationenleitbild, das als Bogen die beiden bestehenden Konzepte überspannen sollte. Gemeinderat und Parlament unterstützten das Vorgehen. Doch zeigte sich bald, dass die mit der Erarbeitung beauftragte Sozialkommission das Geschäft Generationenleitbild nur mit Widerstand aufnahm und der Elan für einen weiteren aufwändigen Leitbildprozess fehlte. So kam es zum Abbruch, wobei Karin Waber betont, dass sie sich auch heute noch ein solches Strategiepapier wünsche. Mit Stolz berichtet sie aber, dass dieser negative Ausgang die Gemeinde nicht daran hindere, generationenverbindende Aktivitäten zu initiieren. Als Beispiel nennt sie die neue Handy- und Computersprechstunde, die von der Jugendarbeit und dem Verein für Seniorinnen und Senioren gemeinsam angeboten werde.
Fazit: Es braucht Generationenpolitik
Trotz unterschiedlicher Ausgangslagen und Herangehensweisen waren sich in der Runde alle einig: Es braucht eine Generationenpolitik, unabhängig davon, ob ein Leitbild besteht oder nicht. Nicht nur in Grossstädten, sondern auch in Kleinstgemeinden lebt eine heterogene Bevölkerung, die vom gegenseitigen Austausch profitieren kann. Werden Generationenbeziehungen nicht aktiv gepflegt, leben Jung und Alt aneinander vorbei. Generationenpolitik setzt deshalb bei der Beziehungsebene an. Sie kann darüber hinaus auch die Solidarität und Gerechtigkeit zwischen den Generationen stärken oder gar einen Generationenvertrag abschliessen.
Der Anspruch eines Generationenleitbilds kann unterschiedlich hoch angesetzt werden, die eigentliche Herausforderung liegt jedoch in der Umsetzung. Elias Rüegsegger von «UND» sprach den Anwesenden aus dem Herzen, als er betonte, dass die kommunale Sozialpolitik sich heutzutage nicht auf die Tätigkeit des Sozialdiensts und das gesetzliche Minimum beschränken könne. Die soziale Infrastruktur müsse daher weiter gestärkt werden. Damit Generationenpolitik gelinge, brauche es ein geschicktes Zusammenspiel zwischen Planung und Umsetzung. Eine gutgemeinte Politik verliere sonst schnell den Kontakt zur Basis und schon fehle dem Leitbild die Bevölkerung wie dem Maler die Kuh.