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Grundlagenpapier schafft Orientierung für die ambulante psychiatrische Pflege

23.09.2025 Die Expert*innengruppe «Psychiatriespitex» hat ein Grundlagenpapier veröffentlicht, das die Rolle der ambulanten psychiatrischen Pflege (APP) definiert und Handlungsbedarf identifiziert, damit APP ihre Rolle wirksam erfüllen kann. Im Gespräch erklären Dr. Anna Hegedüs von der BFH und Ursina Zehnder von der Spitex Zürich, warum APP so wichtig ist und weshalb es bessere Rahmendbedingungen braucht.

Das Wichtigste in Kürze

  • Grundlagenpapier definiert die Rolle der ambulanten psychiatrischen Pflege (APP) und schafft ein gemeinsames Verständnis. 

  • Ziel ist, eine Basis für Qualität, Anerkennung und faire Finanzierung zu schaffen.

  • Es soll helfen, Versorgungslücken zu schliessen und APP im System sichtbar machen.

Frau Zehnder, was macht den Mehrwert der ambulanten psychiatrischen Pflege aus?

Ursina Zehnder: Wir begegnen Menschen in ihrem Zuhause und damit in ihrer Lebenswelt. Oft begleiten wir sie über Jahre hinweg. Dadurch entsteht eine vertrauensvolle Beziehung auf Augenhöhe, die es ermöglicht, konkrete Unterstützung im Alltag anzubieten, beispielsweise bei der Tagesstrukturierung, der Krisenbewältigung oder dem Erhalt der Selbstständigkeit. So lassen sich Klinikaufenthalte reduzieren.

Frau Hegedüs, weshalb braucht es ein Grundlagenpapier, wenn APP seit Jahren existiert?

Anna Hegedüs: APP gibt es seit über 20 Jahren, wird im System jedoch oft missverstanden oder gar nicht wahrgenommen. Das Grundlagenpapier schafft ein gemeinsames Verständnis – bei Versicherern, Zuweisenden, Behörden und interessierten Spitex-Organisationen. Es soll die Basis für Qualitätsentwicklung, Finanzierung und Anerkennung legen. Erstellt wurde das Papier von der Expert*innengruppe «Psychiatriespitex». 

Expert*innengruppe «Psychiatriespitex»

Expert*innengruppe «Psychiatriespitex»

Die Expert*innengruppe «Psychiatriespitex» wurde 2024 von Spitex Schweiz ins Leben gerufen. Sie vereint Vertreter*innen verschiedener Organisationen, darunter Spitex Schweiz, Curacasa, ASPS und die Berner Fachhochschule. Sie arbeitet über die Sprachregionen hinweg.

«Wir begegnen Menschen in ihrem Zuhause und damit in ihrer Lebenswelt.»

  • Ursina Zehnder COO und Mitglied der Geschäftsleitung bei Spitex Zürich
Grundlagenpapier Ambulante Psychiatrische Pflege

«Oft geht es nicht um Besserung, sondern um Stabilisierung, Krisenprävention und den Erhalt von Fähigkeiten.»

  • Anna Hegedüs Stiftung Lindenhof Tenure Track Position

Die Beziehungsarbeit gilt als Kern der APP. Wie gelingt es, Vertrauen aufzubauen?

Ursina Zehnder: Ein erster Kontakt ohne den Druck von Tarifen, Verträgen oder Assessments ist entscheidend. Die Gespräche finden in der vertrauten Umgebung statt, was Sicherheit schafft. Diese Nähe zur betroffenen Person erfordert von den Fachpersonen Professionalität und Reflexion, damit Beziehungen auch in Konfliktsituationen tragfähig bleiben. Wichtig ist, dass die Fachpersonen ihre eigene Haltung immer wieder reflektieren. Warum verhält sich die Klientin oder der Klient auf eine bestimmte Weise? Welche Gefühle und Gedanken löst das bei mir aus? Und wie kann ich mich verhalten, damit die betroffene Person profitiert? 

Wo stösst die ambulante psychiatrische Spitex an Grenzen?

Anna Hegedüs: Vor allem bei der Finanzierung. Krankenversicherer lehnen häufig die Vergütung der ambulanten psychiatrischen Pflege ab, wenn sich der Zustand der Klient*innen nicht sichtbar verbessert. Dabei wird verkannt, dass bei chronischen psychiatrischen Erkrankungen eine «Besserung» im klassischen Sinne nicht immer möglich oder realistisch ist. Oft geht es vielmehr um Stabilisierung, Krisenprävention und den Erhalt von Fähigkeiten, die ein selbstständiges Leben zu Hause ermöglichen. Diese Ziele sind ebenso pflegerisch relevant und wirksam.

Ursina Zehnder: Hinzu kommt, dass der Koordinationsaufwand im häuslichen Umfeld sehr hoch ist. Wir brauchen eine faire Finanzierung, die dieser Komplexität gerecht wird. 

«Das Grundlagenpapier schafft ein gemeinsames Verständnis – bei Versicherern, Zuweisenden, Behörden und Spitex-Organisationen.»

  • Anna Hegedüs Stiftung Lindenhof Tenure Track Position

Welche weiteren Hürden sehen Sie beim Zugang zur APP?

Anna Hegedüs: Anders als in der somatischen Pflege braucht es für die Kostenübernahme der psychiatrischen Spitex-Dienstleistungen heute eine medizinische Diagnose. Das führt zu Versorgungslücken, insbesondere aufgrund langer Wartezeiten auf Fachpersonal. Wir fordern deshalb eine Gleichstellung psychischer und somatischer Erkrankungen sowie den gezielten Ausbau der ambulanten psychiatrischen Pflege, auch in ländlichen Regionen. 

Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit Ärzt*innen und anderen Fachpersonen?

Ursina Zehnder: Grundsätzlich gut, da wir die gleichen Ziele verfolgen. Doch Zeit für interprofessionellen Austausch fehlt oft auf beiden Seiten und wird kaum honoriert. Zudem ist APP noch zu wenig bekannt. Manchmal werden Pflegefachpersonen nicht ernst genommen oder übergangen. Genau hier soll das Grundlagenpapier Klarheit schaffen. 
 

«Wir brauchen eine faire Finanzierung, die der hohen Komplexität im häuslichen Umfeld gerecht wird.»

  • Ursina Zehnder COO und Mitglied der Geschäftsleitung bei Spitex Zürich

Welche Rolle kann Forschung spielen?

Anna Hegedüs: Wir benötigen Studien, die die Wirksamkeit und den Nutzen von APP belegen, beispielsweise in Bezug auf Hospitalisierungen, Lebensqualität oder Recovery. Ein aktuelles Forschungsprojekt der BFH mit dem Titel «Wirksamkeit und Nutzen der ambulanten psychiatrischen Pflege» untersucht gerade den Aspekt der Hospitalisierung. Zudem sollten Routinedaten systematisch ausgewertet werden, um Versorgungslücken sichtbar zu machen. Das schafft eine Grundlage für politische Entscheidungen und eine faire Finanzierung.
 

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