Subtiler Zwang und die Rolle vertretungsberechtigter Personen

Menschen mit Behinderung sind in Pflege- und Sozialeinrichtungen unterschiedlichen Formen von subtilem Zwang ausgesetzt. Im Projekt werden diese verschiedenen Formen und die Rolle der vertretungsberechtigten Personen untersucht.

Steckbrief

Ausgangslage

2014 ratifizierte die Schweiz die Behindertenrechtskonvention der UNO (UN-BRK). Die UN-BRK zielt darauf ab, «dass Menschen mit Behinderungen ihre Rechte in gleichem Masse ausüben können wie Menschen ohne Behinderungen». Das bedeutet, dass auch Menschen mit Behinderungen, die in Wohn- und Sozialeinrichtungen leben, das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung haben und entsprechende Massnahmen zur Wahrung ihrer Rechte ergriffen werden müssen. Im Projekt wird der Frage nachgegangen, welche Formen von subtilem Zwang Menschen mit körperlicher, psychischer und/oder kognitiver Behinderung erleben, die in Pflege- und Sozialeinrichtungen leben. Auch wird erforscht, wie die Sichtweise der betroffenen Personen eingeholt und gewichtet wird. Weiter soll untersucht werden, welche Rolle vertretungsberechtigte Personen (professionelle Beistandspersonen wie auch nicht professionelle) einnehmen: inwieweit sind sie kompetent, die durch eine Institution vorgesehenen Massnahmen zu beurteilen. Beim Thema Zwang bestehen bekanntermassen viele Ängste. Insbesondere Betroffene, die in entsprechenden Einrichtungen leben, haben oftmals Angst vor Konsequenzen, wenn sie sich negativ zu ihrer Institution äussern. Deshalb geht das Projekt in einem Co-Design vor. Es wird gemeinsam mit dieser Zielgruppe in Workshops oder Einzelgesprächen das methodische Vorgehen für ein Drittmittelprojekt entwickelt und auf Machbarkeit geprüft .

Vorgehen

Eine Literaturrecherche bildet die Grundlage zur Frage, welche subtilen Formen von Zwang und welche Forschungszugänge zu Menschen mit Behinderungen bereits beschrieben werden. Es wird ein qualitativ-exploratives Design angewendet, bei dem das konkrete Vorgehen mit der Zielgruppe im Co-Design entwickelt wird. Das Setting umfasst den stationären Behinderten,- Alters- und psychiatrischen Langzeitpflegebereich. Die Stichprobe besteht aus Menschen mit körperlicher, psychischer und/oder kognitiver Behinderung, die in einer Pflege- und Sozialeinrichtung leben, sowie deren vertretungsberechtigten Personen (professionell und nicht professionell). Die Rekrutierung erfolgt in einem Gatekeeper- und Schneeballverfahren über Behindertenorganisationen, Verbände, persönliche und berufliche Netzwerke, Sozialdienste sowie über Pflege- und Sozialeinrichtungen. Dabei soll geklärt werden, wie der Zugang zur Bevölkerung, insbesondere der Menschen mit körperlicher, psychischer und/oder kognitiver Behinderung, die in Pflege- und Sozialeinrichtungen leben, sowie deren Angehörigen realisiert werden kann. Weiter gilt es in der Machbarkeitsanalyse zu klären, durch welche Formen der Datensammlung differenzierte Ergebnisse gewonnen werden können. Die Datensammlungsmethode soll skizziert und mit der Zielgruppe auf Umsetzbarkeit überprüft werden. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf die Datensammlung bei Personen gelegt, die sich verbal weniger gut mitteilen können.

Ergebnisse

Die Ergebnisse der durchgeführten Vorstudie zeigen, dass die Freiheit und Selbstbestimmung von in Wohn- und Pflegeheimen lebenen Menschen mit Behinderungen oftmals eingeschränkt sind. Lange Zeit wurden dabei vor allem formelle Formen von Zwang als Einschränkung erkannt. Diese sind rechtlich definiert: etwas Bewegungseinschränkung oder fürsorgerische Unterbringungen. Für Menschen in Wohn- und Pflegeheimen wirken sich jedoch auch subtilere Formen von Zwang wesentlich auf das Ausleben ihrer Rechte aus. So verunmöglichen beispielsweise starre Essens- und zu Bettgehzeiten die Teilhabe am sozialen Leben. Neben den Aspekten, die sich aus der Interaktion zwischen Fachpersonen und Betroffenen ergeben, können auch strukturelle und organisatorische Faktoren einschränkend sein. Für diesen subtilen, nicht-formellen Zwang gibt es bisher keine abschliessende Definition. Die Ergebnisse zeigen weiter, dass Personen, die aufgrund ihrer Behinderung in Wohn- und Pflegeheimen leben, oftmals auf Unterstützung durch vertretungsberechtigte Personen angewiesen sind - z.B. Angehörige und Beistandspersonen. Wie diese einbezogen werden, ist in den Heimen unterschiedlich und wenig standardisiert. Es zeigt sich, dass vertretungsberechtigte Personen eine wichtige, aber bisher kaum beschriebene Rolle in Zusammenhang mit nicht-formellem Zwang in Wohn- und Pflegeheimen einnehmen.

Ausblick

Aus den Ergebnissen der Vorstudie resultiert ein Folgeprojekt, das im Co-Design mit Betroffenen entwickelt wurde. Ziel dieses Projektes ist es, das Thema gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen, Angehörigen, Beistandspersonen sowie Fachpersonen von Wohn- und Pflegheimen sowie Vertreter*innen national agierender Verbände weiterführend zu untersuchen. Dabei sollen Formen von nicht-formellem Zwang, die Menschen in Wohn- und Pflegeheimen erleben sowie die Rollen und Handlungsmöglichkeiten der involvierten Personen systematisch beschrieben werden. Ausgehend der Ergebnisse sollen anschliessend adressat*innengerechte Hilfsmittel zum Erkennen, Thematisieren und Verändern von nicht-formellem Zwang respektive zur Förderung der Selbstbestimmung der Betroffenen entwickelt werden. Die Erkenntnisse und Produkte sollen der Zielgruppe und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, um so eine Sensibilisierung und ein Wissenstransfer für nicht-formelle Formen von Zwang zu erreichen und das Veränderungspotential sichtbar zu machen.

Dieses Projekt leistet einen Beitrag zu den folgenden SDGs

  • 3: Gesundheit und Wohlergehen
  • 10: Weniger Ungleichheiten
  • 16: Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen