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Zukunft gestalten: Die Rolle der Ernährungsberatung in nachhaltigen Ernährungssystemen
15.07.2025 Der Auftrag der Ernährungsberatung erweitert sich – im Spannungsfeld von Gesundheit, Gesellschaft und Umwelt. Ein neues Positionspapier greift diese Entwicklung auf und stärkt die Rolle der Berufsgruppe als zentrale Akteur*innen für ein nachhaltiges Ernährungssystem in der Schweiz.
Das Wichtigste in Kürze
- Das neue Positionspapier definiert die Rolle der Ernährungsberatung als zentrale Akteur*innen für ein nachhaltiges Ernährungssystem in der Schweiz.
- Systemisches Denken ist eine Schlüsselkompetenz für Ernährungsberater*innen, um gesundheitliche, ökologische und soziale Aspekte in ihrem Arbeitsalltag und im gesellschaftlichen Diskurs in Einklang zu bringen.
- Diese und weitere Kompetenzen, die ihren Beitrag an die Transformation des Ernährungssystems unterstützen, müssen in Aus- und Weiterbildung dringend gestärkt werden.
Das BFH-Projekt «Die Rolle der Ernährungsberatung im nachhaltigen Ernährungssystem in der Schweiz» ist abgeschlossen, das dazugehörige Positionspapier wurde vom Schweizerischen Verband der Ernährungsberater/innen SVDE veröffentlicht. «Wir wollten ein zukunftsgerichtetes Statement setzen: Ernährungsberatung ist nicht nur gesundheitsfördernd, sondern auch systemrelevant für eine nachhaltige Gesellschaft», sagt Co-Projektleiterin Gina Tüfer. Anlass für das Papier war die Dringlichkeit, die Rolle der Ernährungsberatung im Kontext multipler Krisen unserer Zeit – Klimawandel, chronische Krankheiten, soziale Ungleichheit – neu zu definieren. Zudem sei es eine immer wiederkehrende Frage innerhalb der Berufsgruppe, welche Rolle Ernährungsberater*innen haben können und sollten. Viele Berufsverbände auf der Welt haben solche Positionspapiere bereits veröffentlicht, nun liegt auch ein fundiertes Statement für die Schweiz vor.
«Ernährungsberatung ist nicht nur gesundheitsfördernd, sondern auch systemrelevant für eine nachhaltige Gesellschaft.»
Eine Profession zwischen Gesundheit, Umwelt, Ethik, Gesellschaft und Wirtschaft
Das Papier beschreibt die Ernährungsberatung als Profession, die an der Schnittstelle von Gesundheit, Umwelt, Ethik, Gesellschaft und Wirtschaft wirkt. Doch wie kann diese komplexe Rolle im Berufsalltag gelingen? «Das gelingt durch das Anknüpfen an bestehende Stärken der Ernährungsberatung», erklärt Co-Projektleiterin Sonja Schönberg. Ernährungsberater*innen erfassen ohnehin die Lebenswelt ihrer Klient*innen. Nun gilt es, diese Beratung noch bewusster mit Aspekten der Nachhaltigkeitsdimensionen zu verknüpfen. Das bedeutet beispielsweise, gesundheitliche Empfehlungen mit ökologischen Überlegungen zu verbinden. Dies kann etwa durch eine differenzierte Betrachtung pflanzenbasierter Ernährung, regionaler und saisonaler Produkte oder der «besseren Wahl» beim Fleischkonsum erfolgen. Dafür ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit unerlässlich, ebenso wie die Mitgestaltung von institutionellen Rahmenbedingungen, beispielsweise in Schulen oder Spitälern.

Erweiterter Berufsauftrag: Systemische*r Vermittler*in
Ein zentrales Anliegen ist der «erweiterte Berufsauftrag», der die professionelle Identität der Ernährungsberater*innen um die Rolle systemischer Vermittler*innen ergänzt. «Fachpersonen beraten nicht nur, sondern gestalten auch gesellschaftliche Diskurse mit und ordnen adaptive Herausforderungen wie Klimawandel oder Ernährungsunsicherheit systemisch ein», erklärt Tüfer. Im Alltag bedeutet das, Nachhaltigkeitsaspekte gezielt in die prozessbasierte, therapeutische Tätigkeit zu integrieren, etwa im Ernährungsassessment und bei der Planung von Ernährungsinterventionen. Darüber hinaus sollen sich Fachpersonen aktiver in gesellschaftliche und politische Debatten einbringen.
Das Positionspapier
Das neue Positionspapier des SVDE zeigt auf, welche zentrale Rolle Ernährungsberater/innen bei der Transformation hin zu einem nachhaltigen Ernährungssystem in der Schweiz einnehmen.
«Es kann nur gesunde Menschen auf einem gesunden Planeten geben.»
Den Planeten im Auge behalten
Im Fokus steht dabei das Konzept der «Planetaren Gesundheit». «Es kann nur gesunde Menschen auf einem gesunden Planeten geben. Wo es keine Luft zum Atmen, keine fruchtbaren Böden und kein sauberes Trinkwasser gibt, gibt es auch kein Leben», bringt es Schönberg auf den Punkt. Die Kernaufgabe in der Klinik bleibt zwar die Betreuung von Individuen, gleichzeitig muss aber auch der Planet im Auge behalten werden. Dabei ist klar: «Vulnerable Gruppen, wie Patient*innen mit Protein-Energie-Mangelernährung, sind nicht diejenigen, die für die Senkung des ernährungsbedingten ökologischen Fussabdrucks in der Schweiz verantwortlich sind», so Schönberg weiter. Für alle anderen Gruppen hingegen können Kliniken gesunde und nachhaltige Ernährung fördern, zum Beispiel durch die Gestaltung von Menüplänen für die Vollkostverpflegung von Patient*innen und in der Gemeinschaftsgastronomie für Mitarbeitende.
«Nicht schaden» – auch in ökologischer Hinsicht
«Systems Thinking hilft, planetare Gesundheit nicht als abstraktes Konzept, sondern als konkreten Handlungsrahmen zu verstehen», erklärt Tüfer. Indem Rückkopplungen, zum Beispiel zwischen Ernährungsempfehlungen, Umweltwirkungen und sozialer Gerechtigkeit, analysiert werden, lassen sich Empfehlungen nicht nur individuell, sondern auch systemisch begründen. Themen wie Food Waste, Produktionsbedingungen oder kulturelle Kontexte rücken so stärker in den Fokus der Beratung.
Das medizinethische Prinzip «Primum non nocere» wird auf diese Weise erweitert verstanden. «Ernährungsberatende bekennen sich dazu, Gesundheit zu schützen, zu erhalten und wiederherzustellen. Wenn wir den Planeten zerstören, tragen wir zum Gegenteil bei», erklärt Tüfer. «‹Nicht schaden› bedeutet nicht nur, dem Individuum keinen Schaden zuzufügen, sondern auch der Umwelt und künftigen Generationen.» Empfehlungen sollen so gestaltet werden, dass langfristige Schäden für Umwelt und Gesellschaft vermieden werden. Systemisches Denken hilft dabei, solche Nebenwirkungen frühzeitig zu erkennen.
«‹Nicht schaden› bedeutet nicht nur, dem Individuum keinen Schaden zuzufügen, sondern auch der Umwelt und künftigen Generationen.»
«Systemdenken gehört ins Curriculum»
Was heisst das für die Ausbildung? «Die Curricula müssen erweitert werden. Systemdenken, Nachhaltigkeit, Umweltethik und soziopolitische Themen sollten integrale Bestandteile der Ausbildung sein», sagt Schönberg. Diese Kompetenzen sollen gezielt gefördert werden, und zwar durch Fallstudien, interdisziplinäre Lehrformate und eine neue Lernkultur, die die Ambiguitätstoleranz der Studierenden erhöht und vernetztes Denken fördert.
«Der Praxisbezug ist absolut zentral und kann beispielsweise durch die Zusammenarbeit mit Gemeinden, der Landwirtschaft oder mit Food Waste-Initiativen weiter gefördert werden», sagt Tüfer. An der BFH gibt es bereits erste Beispiele: Studierende im BSc Ernährung und Diätetik üben das Abwägen von Nachhaltigkeitsdimensionen durch Postenläufe zu Wasser- und Klimafussabdrücken von Lebensmitteln oder im Rahmen von Exkursionen zum Thema Fleisch und Nachhaltigkeit.
«Systemdenken, Nachhaltigkeit, Umweltethik und soziopolitische Bildung sollten integrale Bestandteile der Ausbildung sein.»

Vom Positionspapier zur Praxis
Das Projektteam sieht zahlreiche realistische Hebelpunkte: «Die Klimastrategie ist ein politischer Auftrag, die Leistungen im Gesundheitswesen und die Ausbildung kompetenter Fachpersonen ebenfalls», betont Schönberg. Konkrete Ansätze finden sich etwa in der Integration nachhaltiger Ernährung in bestehende Gesundheitsförderungsprogramme, beispielsweise in Schulen, Betrieben oder Spitälern. Auch die öffentliche Beschaffung hat Potenzial: «Wenn Kantinen nachhaltiger einkaufen, hat das grosse Wirkung.» Hochschulen wiederum könnten systemisches Denken curricular verankern, und Initiativen wie «2Slides4Future» an der BFH bieten weitere Anknüpfungspunkte zur Implementierung von Bildung für Nachhaltige Entwicklung in die Lehre, wie es der Leistungsauftrag des Regierungsrates fordert.
Erste Umsetzungsbeispiele gibt es bereits. «Spitäler, die klimafreundliche Menülinien einführen, oder Gemeinden, die mit Ernährungsberater*innen nachhaltige Ernährungskampagnen umsetzen – es gibt einige vielversprechende Ansätze», so Tüfer. Der nächste Schritt sei nun, diese systematisch zu sammeln und sichtbar zu machen.