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Lebensqualität im Alter trotz Herausforderungen steigern
18.09.2025
Lebensqualität im Alter umfasst verschiedene Aspekte des täglichen Lebens und wird sowohl von individuellen Faktoren als auch von der Umwelt beeinflusst. Doch was genau bedeutet Lebensqualität? Wie lässt sie sich erfassen? Ein Modell weist den Weg zu mehr Teilhabe
und Lebenszufriedenheit.
Das Wichtigste in Kürze
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Das CHAPO-Modell hilf die Lebensqualität im Alterbietet einzuschätzen, indem es individuelle Faktoren, Umweltbedingungen, Lebensoptionen und -resultate betrachtet.
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Das Fallbeispiel von Frau N. zeigt, wie sich Potenziale wie kreative Ressourcen, Tagesstruktur und soziale Anbindung aktivieren lassen.
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Im Fachkurs der BFH lernen Sie, wie ein subjektiv sinnvolles, selbstbestimmtes Leben durch interprofessionelle Zusammenarbeit gefördert werden kann.
Frau N. ist 71 Jahre alt und scheint eine unabhängige Frau zu sein. Sie ist geschieden, hat keine Kinder und lebt seit vielen Jahren allein. Als ausgebildete Textildesignerin war sie lange in einem kreativen Beruf tätig. Mitte Vierzig wurde ihr aufgrund einer psychischen Erkrankung eine Invalidenrente zugesprochen. Nun wurde sie in die Integrierte Psychiatrie Winterthur eingewiesen. Wie kann sie ihr Leben wieder so führen, dass sie es als «gelingend» bezeichnen kann?
Diese Frage untersucht das Modell Challenges and Potentials CHAPO (Wagner et al., 2018), das am Institut Alter im Fachkurs Interprofessionelle Zusammenarbeit in der Lebenswelt älterer Menschen gelehrt wird. Es kann bei Rapporten verwendet werden und berücksichtigt individuelle Voraussetzungen und Umweltfaktoren, Lebensoptionen und -resultate aus objektiver und subjektiver Sicht sowie die Dimension der gelungenen Lebensführung. Im Folgenden soll das Modell am Fall von Frau N. illustriert werden.
Individuelle Faktoren
Bei Frau N. wurde vor längerer Zeit eine schizoaffektive Störung diagnostiziert. Zudem leidet sie an verschiedenen physischen Erkrankungen: Fettleibigkeit, Diabetes, Niereninsuffizienz sowie Kalium-, Vitamin-D- und Folsäure-Mangel. Sowohl die psychischen als auch die physischen Belastungen sind deutlich erkennbar. Dennoch lebte Frau N. über viele Jahre hinweg selbstständig und ohne Unterstützung. Sie war somit bisher fähig, die Herausforderungen des Lebens zu meistern.
Umweltfaktoren
Frau N. lebte jedoch sozial isoliert. Ihre Cousine ist die einzige Person, zu der sie gelegentlich Kontakt hat. Ein stabiles soziales Netz fehlt, was das Risiko für Einsamkeit, Vernachlässigung und psychische Krisen erhöht. Ihre Einweisung in die psychiatrische Klinik erfolgte nach einem Notruf, bei dem auch die Polizei und die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) einbezogen wurden. Dies können Anzeichen einer prekären häuslichen Situation und fehlender Unterstützung im Alltag sein. Eine kontinuierliche ambulante Begleitung oder frühzeitige Intervention scheinen bisher ausgeblieben zu sein. Offenbar hat Frau N. auch keine anderen Unterstützungsangebote (im CHAPO-Modell Umweltressourcen genannt), wie betreutes Wohnen, Tageskliniken, psychiatrische Spitex oder niederschwellige Freizeitangebote, in Anspruch genommen.

Lebensoptionen
Die Handlungsmöglichkeiten von Frau N. sind aufgrund ihrer Mehrfacherkrankung, der chronischen psychischen Störung und ihrer sozialen Isolation objektiv stark eingeschränkt. Es fällt ihr schwer, alltägliche Aufgaben zu erledigen, sozial zu interagieren oder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Wie sich Frau N. subjektiv selbst einschätzt, war zum Zeitpunkt ihrer Einweisung wenig bekannt. Es wäre daher wichtig, ihre Wünsche für den Alltag, die Aktivitäten, die ihr Freude bereiten, die eigenen Ressourcen, die sie bei sich selbst wahrnimmt, sowie ihre bisherigen Strategien zur Bewältigung des Alltags zu erfragen. Denn trotz der bestehenden Einschränkungen können auch Potenziale bestehen: Möchte sie sich beispielsweise mit Malen oder Handarbeit kreativ ausdrücken, sich körperlich betätigen oder an den Gesprächsrunden teilnehmen, ist es entscheidend, dass diese Optionen – zum Beispiel als betreute Gruppenaktivitäten – vorhanden und zugänglich sind.
Lebensresultate
Von aussen betrachtet könnte das Leben von Frau N. aufgrund ihrer objektiven Einschränkungen als nicht besonders gelungen betrachtet werden. Die Vermutung liegt nahe, dass bei Frau N. aufgrund der behördlichen Intervention auch subjektiv eine gewisse Resignation vorliegt. Gleichzeitig sind persönliche Einschätzungen sehr individuell. Einige Menschen empfinden trotz objektiver Belastungen Zufriedenheit, weil sie zum Beispiel die Kontrolle über bestimmte Aspekte ihres Lebens behalten haben oder sich sicher fühlen. Für die Lebensqualität von Frau N. ist entscheidend, das subjektive Befinden durch Gespräche und geeignete Interventionen zu erfassen, um die nach ihrer Einweisung getroffenen Massnahmen zu planen.
Eine gelungene Lebensführung
Gemäss dem CHAPO-Modell umfasst eine gelingende Lebensführung weit mehr als nur die körperliche Gesundheit oder die funktionelle Unabhängigkeit. Sie beinhaltet ein Leben, das trotz körperlicher und psychischer Einschränkungen subjektiv und objektiv als sinnvoll und selbstbestimmt erfahren wird. Bei Frau N. wurde mit diesem Verständnis geplant:
- eine Tagesstruktur aufzubauen, die sie als sinnvoll erlebt,
- ihre kreativen Ressourcen zu erhalten, etwa durch eine Kunst-, Ergo- oder Physiotherapie,
- eine soziale Anbindung zu schaffen, selbst wenn diese zunächst über eine Betreuung oder Einzelkontakte erfolgt – vorgeschlagen wird etwa der regelmässige Kontakt mit ihrer Cousine,
- ihre Autonomie zu stärken, indem sie bei ihren Behandlungszielen oder Freizeitaktivitäten mitbestimmt.
Für Frau N. bedeutet eine gelingende Lebensführung somit nicht unbedingt die Rückkehr in ihre Wohnung, sondern eine gelungene Gestaltung ihres Alltags. Dies bedeutet für sie, dass sie sich sicher fühlt und aktiv an Entscheidungen teilnehmen kann. So wird ihre Würde gewahrt.
Ein Modell für mehr Lebensqualität
Die Anwendung des CHAPO-Modells im Fall von Frau N. zeigt, wie in komplexen Situationen wichtige Ressourcen der Klient*innen und der Umwelt erkannt und genutzt werden können. Im psychiatrischen Kontext hilft dieses integrative Modell, die Lebensqualität auf vielfältige Weise und personenzentriert zu steigern sowie echte Teilhabe zu ermöglichen.
Die interprofessionelle Zusammenarbeit bietet hierzu Chancen um die Lebensqualität aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven zu erfassen und gemeinsam mit Frau N. passende Lösungen zu entwickeln. Ein solcher Perspektivwechsel, der Umwelfaktoren und individuelle Bedingungen sowie subjektive und objektive Sichtweisen berücksichtigt, ist entscheidend und ermöglicht eine würdevolle Begleitung im Alter.