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Einbindung von Erfahrungsexpertise bei chronischen Schmerzen

27.05.2025 In Kooperation mit dem Schmerzzentrum des Inselspitals bindet die BFH mit kreativen Methoden wie Patient Journey Mapping gezielt gelebte Erfahrungen von Patient*innen ein. So lassen sich Faktoren identifizieren, die aus Betroffenensicht eine Chronifizierung von Schmerzen begünstigen oder hemmen.

Das Wichtigste in Kürze

  • Chronische Schmerzen betreffen bis zu 40 Prozent der Bevölkerung – Betroffene fühlen sich im Gesundheitssystem oft allein gelassen.
  • Im Projekt PrePaC entwickeln die BFH und das Schmerzzentrum des Inselspitals gemeinsam mit Patient*innen neue Wege zur Prävention von Schmerzchronifizierung.
  • Erfahrungen von Betroffenen werden systematisch einbezogen, um Versorgungspfade zu verbessern, Selbstwirksamkeit zu stärken und «Medical Gaslighting» entgegenzuwirken.

Zwischen 10 und 40 Prozent der Bevölkerung leben mit chronischen Schmerzen, die sowohl die Lebensqualität beeinträchtigen als auch sozioökonomische Auswirkungen haben. 2022 klassifizierte die Weltgesundheitsorganisation chronische Schmerzen als eigenständige Erkrankung – und nicht mehr als Begleiterscheinung.

Erfahrungsexpertise einbinden

Im Projekt PrePaC (Prevention of Pain Chronification) werden gemeinsam mit Betroffenen und in Anlehnung an das biopsychosoziale Modell präventive Massnahmen entwickelt, die einer Chronifizierung entgegenwirken (siehe auch «Die Chronifizierung von Schmerzen verhindern»). Ein Netzwerk für eine integrierte Versorgung soll frühzeitige gezielte Interventionen definieren, Kompetenzen stärken und das Bewusstsein schärfen. Hauptziel des Teilprojekts «Partizipation» ist es, die Perspektiven und die Erfahrungsexpertise von Menschen mit Schmerzen, ihren Angehörigen sowie von Fachpersonen der Krankenkassen und der Invalidenversicherung in Information, Prozesse, Bildung und Angebote einzubeziehen. Dadurch fliessen konkrete Lebensrealitäten in Lösungen und Massnahmen ein – bei komplexen chronischen Beschwerden ein Muss.

Die Erfahrungsexpertise wird auf mehreren Ebenen und mit unterschiedlichen Methoden erfasst und eingebunden. Mithilfe von Workshops, Fokusgruppen, Interviews und Diskussionen werden Massnahmen und Angebote erarbeitet, die Betroffene auf ihrer «Patient Journey» durch das Gesundheitssystem unterstützen.

«Oft ist es pures Glück, dass man eine korrekte Diagnose erhält.»

  • Betroffene Person Projekt PrePaC

Krankheitsgeschichten kartografiert

Für das Teilprojekt «Gesundheitspfad» befasst sich die Begleitgruppe zum Beispiel mit ihren eigenen Krankheitsgeschichten. Sie zeichnen, erzählen und analysieren ihre «Patient Journey Maps», um Herausforderungen, Wendepunkte und Lücken im Gesundheitssystem auf einer Karte sichtbar zu machen. Betroffene diskutieren, kommentieren, ergänzen und dokumentieren ihre Schilderungen und bringen dabei ihre Perspektiven, gelebten Erfahrungen und ihr Wissen über Körper, Erkrankung und das System in die Projektarbeit ein.

Aus individuellen Geschichten und Zeichnungen werden typische Verläufe, Gemeinsamkeiten und immer wiederkehrende Wendepunkte und Herausforderungen herausgearbeitet. Diese wertvollen Erfahrungen und Erkenntnisse können die Weiterentwicklung von Versorgungspfaden – also allgemeingültige Prozesse, standardisierte Präventions- und Behandlungsansätze sowie innovative Versorgungsmodelle – gezielt mitgestalten.

Die Erfahrungen von Fachpersonen und Betroffenen werden genutzt, um gemeinsam Schlüsselthemen, Schnittstellen und strukturelle Mängel im Gesundheitssystem zu identifizieren. Der Austausch fördert gleichzeitig die gemeinsame Entscheidungsfindung, die Kommunikation auf Augenhöhe und die interprofessionelle Zusammenarbeit.

Medical Gaslighting

Menschen mit chronischen Schmerzen erleben oft, dass ihre Beschwerden nicht ernst genommen werden. Fachpersonen spielen Schwere, Ausprägung oder Ausmass der Schmerzen herunter – sogenanntes «Medical Gaslighting». So berichten Erfahrungsexpert*innen, dass ihre Symptome bereits in der Kindheit als «Wachstumschmerzen» abgetan wurden, was die Betroffenen und ihre Familien verunsicherte.

Unsichtbare und nicht objektivierbare Beschwerden werden auch bei Erwachsenen oft nicht ernst genommen – auch weil viele Betroffene Frauen sind. Dass Frauen mit anhaltenden, schwer zu diagnostizierenden Beschwerden auch heute noch oft als hysterisch abgetan werden, beschreibt die Historikerin Elinor Cleghorn in ihrem Buch «Unwell Women: Misdiagnosis and Myth in a Man-Made World». Caroline Criado Perez zeigt in «Invisible Women: Exposing Data Bias in a World Designed for Men», dass zu wenig Daten über Frauen erhoben wurden.

Eine Auswirkung des Gender-Data-Gap ist, dass Betroffene meist lange auf eine korrekte Diagnose oder eine spezialisierte Behandlung warten müssen – meist sind die Schmerzen dann bereits chronifiziert. Wenn Fachpersonen und das Umfeld Schmerzen nicht ernst nehmen, verstärkt dies zudem Gefühle von Selbstzweifel, Ohnmacht und Isolation. «Manchmal habe ich das Gefühl, ich spinne einfach, weil niemand versteht, was ich durchmache», berichtet eine Teilnehmerin.

Reise durch einen Dschungel

Probleme in der interdisziplinären Zusammenarbeit, mangelnde Koordination, Zeit und Kompetenz sowie personelle Wechsel führen zu falschen oder späten Diagnosen, Frustration und Hilflosigkeit. Auf sich allein gestellt bahnen sich die Betroffenen auf der Suche nach einer angemessenen Versorgung einen Weg durch das Gesundheitssystem. «Man wird von Arzt zu Arzt geschickt, ohne dass jemand wirklich zuhört oder versteht, was los ist», erklärt eine Betroffene. Sie  fühlen sich dem «Dschungel» des Systems ausgeliefert. «Oft ist es pures Glück, dass man eine korrekte Diagnose erhält.»

Dabei könnten eine verbesserte interprofessionelle Zusammenarbeit und eine frühe Versorgung, die neben Medikamenten auch physiotherapeutische, psychologische und soziale Aspekte berücksichtigt, eine Chronifizierung von Schmerzen teilweise verhindern. In vielen Fällen werden psychosoziale Aspekte wie Stress, Ängste oder soziale Isolation nicht ausreichend berücksichtigt, obwohl psychologische Ansätze wie kognitive Verhaltenstherapie oder Entspannungsverfahren die Schmerzbewältigung unterstützen und eine Linderung begünstigen.

«Man muss lernen, dem eigenen Bauchgefühl zu vertrauen und selbst herausfinden, wie man mit chronischen Schmerzen leben kann.»

  • Betroffene Person Projekt PrePaC

Vertrauen und Selbstwirksamkeit

Betroffene berichten, dass ein vertrauensvoller Austausch zwischen Schmerzpatient*innen und medizinischem Fachpersonal, Interaktionen auf Augenhöhe und gemeinsame Entscheidungsfindung einen positiven Einfluss darauf haben, wie sie die Versorgung erleben. Sie wünschen sich eine respektvolle, wertschätzende, empathische, transparente und verständliche Kommunikation über Ursachen, Versorgungsoptionen, Prognosen aber auch Erwartungen. Dafür braucht es die Bereitschaft der Fachpersonen, aktiv zuzuhören, Nichtwissen zuzugeben und Fragen offen und ohne Zeitdruck zu besprechen.

Betroffene möchten vor allem eins: ernst genommen werden. Sie wollen verstehen, wie ihre Schmerzen ausgelöst werden und welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt. So suchen sie Strategien, Informationsangebote, Unterstützung durch Patientenorganisationen und in Selbsthilfegruppen, um ihre Selbstwirksamkeit zu stärken. Das beschreibt auch Andrea Möhr-Michel in ihrem Buch «Krückenhüpferin» über ihr Leben mit entzündlichem Gelenkrheuma. Befähigte Betroffene können sich Wissen, Kompetenzen und individuelle Strategien im Umgang mit Schmerzen aneignen, Entscheide treffen und Verantwortung übernehmen: «Man muss lernen, dem eigenen Bauchgefühl zu vertrauen und irgendwann selbst herausfinden, wie man mit chronischen Schmerzen leben kann – Ärzt*innen geben einem nicht immer die nötigen Antworten.»

Autorinnen:

Erfahrungsexpertinnen Projekt PrePac: Sabine Blum, Ursula Kühnel
Wissenschaftliche Mitarbeiterin BFH: Chantal Britt

Literatur

Neue Wege im Gesundheitswesen

Das Schweizer Gesundheitssystem steht vor Herausforderungen, die mutige neue Wege erfordern. In einer Reihe von Beiträgen präsentieren wir Forschungsprojekte der Berner Fachhochschule, die praxisorientierte Lösungen entwickeln – von innovativen Versorgungsmodellen über digitale Assistenzsysteme bis hin zu nachhaltigen Finanzierungsansätzen.

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