- Forschungsprojekt
Recht und Wirklichkeit in der Sozialhilfe Rechtsmobilisierung im interkantonalen Vergleich
Viele Menschen machen den Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe nicht geltend. Das SNF-Projekt der Berner Fachhochschule und der Hochschule Luzern untersucht, inwiefern Regelungen in den Sozialhilfegesetzen Einfluss darauf haben, ob das Recht auf Hilfe mobilisiert wird oder nicht.
Steckbrief
- Beteiligte Departemente Soziale Arbeit
- Institut(e) Soziale Sicherheit
- Förderorganisation Schweizerischer Nationalfonds SNF
- Laufzeit (geplant) 01.09.2023 - 31.08.2026
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Projektleitung
Prof. Dr. Pascal Coullery
Dr. Melanie Studer (HSLU) -
Projektmitarbeitende
Jan Gerber
Dominik Emanuel Grob
Alissa Sabrina Patricia Hänggeli - Partner Hochschule Luzern HSLU
- Schlüsselwörter Soziale Arbeit, Sozialhilfe, Sozialhilferecht, Rechtsmobilisierung, Nichtbezug
Ausgangslage
Die Sozialhilfe stellt in der Schweiz ein relevantes Sicherungsnetz dar. Jedoch sind ihre Leistungen zur Existenzsicherung auf Bundesebene kaum rechtlich abgesichert. In der Bundesverfassung verankert der Artikel 12 einen grundrechtlichen Anspruch, der die Bürger*innen vor einer unwürdigen Bettelexistenz bewahren soll. Ansonsten gibt es keine bundesrechtlichen Vorgaben zur inhaltlichen Ausgestaltung der kantonalen Sozialhilfe.
Die Existenzsicherung der Sozialhilfe orientiert sich am Prinzip der individuell bedarfsgerechter Leistung und beruht primär auf kantonalen Rechtsgrundlagen. Die Beurteilungs- und Ermessensspielräumen der Kantone sind jedoch erheblich und aus rechtswissenschaftlicher Sicht bisher wenig erforscht. Zudem wird die Sozialhilfe in äusserst unterschiedlichen kantonalen Strukturen vollzogen.
Gleichzeitig stellen Untersuchungen fest, dass der Nichtbezug von Sozialhilfeleistungen ein quantitativ erhebliches Problem darstellt und gesamtschweizerisch betrachtet rund ein Viertel der Personen, die unterhalb der Armutsgrenze leben und Anspruch auf Sozialhilfe hätten, diesen Anspruch nicht geltend machen.
Das Projekt, welches durch die BFH und HSLU in Kooperation durchgeführt wird, geht der Frage nach, welche rechtlichen Rahmenbedingungen als objektive Faktoren dazu führen, dass das Sozialhilferecht mobilisiert wird – d.h. ein bestehender Anspruch geltend gemacht wird – oder eben gerade nicht.
Vorgehen
Das erste Modul untersucht das geltende, positivrechtlich verankerte Sozialhilferecht der verschiedenen Kantone und vergleicht es entlang mobilisierungsrelevanter Kriterien. Diese Kriterien sind zum einen auf der individuellen Ebene (z.B. klare Anspruchsvermittlung, Ausprägung von Pflichten und Sanktionen) und zum anderen auf der organisational-strukturellen Ebene (z.B. Kommunalisierung, Professionalisierung, Finanzierung) angelegt. Für jeden Kanton entsteht eine Grafik, wie mobilisierungsfördernd bzw. -hindernd das geltende Sozialhilferecht bezüglich der beiden Ebenen ist.
In Fallstudien untersucht das Modul 2 anschliessend die Umsetzungspraxis. Der Fokus liegt dabei auf dem Umgang mit offenen Rechtsbegriffen und den Beurteilungs- und Ermessensspielräumen. Befragungen auch von Personen, die trotz prekärer Lebenssituationen keine Sozialhilfe beziehen, sollen Aufschluss darüber geben, ob die subjektiven Gründe für die (Nicht-)Mobilisierung des Sozialhilferechts den rechtlichen Regelungen zugeordnet werden können.
Diese Ergebnisse werden im Modul 3 mit der Analyse der gesetzlichen Grundlagen zusammengeführt, damit die Stärken und Schwächen der verschiedenen kantonalen Systeme umfassend beurteilt werden können.
Auf dieser Beurteilung werden abschliessend im Modul 4 Optimierungsvorschläge formuliert, die sich sowohl an die Rechtsetzung als auch an die Rechtsanwendung richten sollen.


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Weiterführende Informationen:
Ergebnisse
Die Analyse der kantonalen Sozialhilferechtsregimes erfolgte entlang von zehn Mobilisierungsindikatoren. Dabei wurde davon ausgegangen, dass die gesetzliche Ausgestaltung der Sozialhilfe auf der individuellen Ebene (Ausgestaltung der Rechte und Pflichten) wie auf der organisational-strukturellen Ebene (Vorgaben zu Vollzugsstrukturen) mobilisierungsfördernd oder -hindernd sein kann.
Individuelle Rechtslage:
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Sozialstaats- und Integrationsorientierung der Sozialhilfe
- Ausgestaltung des Rechts auf wirtschaftliche Sozialhilfe
- Ausgestaltung des Rechts auf persönliche Hilfe
- Ausgestaltung der Pflichten
- Ausgestaltung der Durchsetzung (inkl. Sanktionen)
Organisational-strukturelle Rahmenbedingungen:
- Ausgestaltung der Organisation
- Ausgestaltung der Finanzierung
- Begleitmassnahmen im Rechtsschutz
- Zugang zu Rechtsmitteln
- Ausgestaltung des nicht-strittigen Verfahrens
Anhand dieser Beurteilung können die Kantone in einem Koordinatensystem verortet werden. Dieses zeigt auf, welche Kantone ein ausgeprägt mobilisierungsförderndes Sozialhilferecht erlassen haben (positive Ausprägung beider Ebenen, grüner Quadrant), welche Kantone ein ausgeprägt mobilisierungshinderndes Sozialhilferecht kennen (negative Ausprägung beider Ebenen, roter Quadrant) und welche Kantone Mobilisierungsdefizite auf einer der beiden Ebenen aufweisen (gelbe Quadranten).
Die Grafik zeigt, dass sich die kantonalen Gesetzgebungen in ihrer Mobilisierungswirkung grundsätzlich stark unterscheiden. Besonders ausgeprägt sind die Unterschiede auf der organisational-strukturellen Ebene. Auffallend ist zudem, dass auf der individuellen Ebene die Streuung auf tiefem Niveau erfolgt und das Optimierungspotenzial entsprechend gross ausfällt. Aufgrund dieser Unterschiede stellt sich u.a. die Frage, inwiefern diese Varianz aus verfassungsrechtlicher Sicht problematisch ist.
Ausblick
Auf Basis der herausgearbeiteten Mobilisierungsfaktoren werden in einem zweiten Schritt Optimierungsvorschläge für das Sozialhilfesystem formuliert.