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Innovation für mehr Selbstständigkeit: Ein Roboterarm im Praxistest

05.06.2025 Menschen mit Tetraplegie und anderen körperlichen Behinderungen sollen dank einer Assistenztechnologie mehr Autonomie gewinnen. Das interprofessionelle Forschungsteam entwickelt das System iterativ: Die Steuerung des Roboterarms wird schrittweise verbessert – basierend auf direktem Nutzerfeedback.

Das Wichtigste in Kürze

  • Ein interdisziplinäres Forschungsteam der BFH entwickelt eine Assistenztechnologie für Menschen mit Tetraplegie und anderen körperlichen Behinderungen.

  • Das System wird aktuell im häuslichen Umfeld der Betroffenen getestet.

  • Bei ihren Tests verbessert das Team das System mit dem Roboterarm schrittweise.

Die Aufgabe erfordert viel Konzentration: Gabriela Pozzi versucht, eine Flasche vom Boden aufzuheben. Was für die meisten Menschen ein alltäglicher Task ist, ist für Gabriela Pozzi eigentlich unmöglich. Denn seit einem Velounfall ist die 64-Jährige querschnittgelähmt. Damit sie die Flasche trotzdem selbstständig vom Boden aufheben kann, hilft ihr ein Roboterarm, montiert an ihrem Elektrorollstuhl.

Gabriela Pozzi hebt mit Hilfe des Roboterarms die Flasche vom Boden auf den Tisch am Cybathlon 2024
Gabriela Pozzi hebt mit Hilfe des Roboterarms die Flasche vom Boden auf den Tisch (Foto: ETH).

Das Roboterarmsystem ist ein Prototyp, entwickelt von einem interdisziplinären Team der Berner Fachhochschule BFH. Das Ziel: eine Assistenztechnologie zu schaffen, die Menschen mit Tetraplegie und anderen körperlichen Einschränkungen im Alltag unterstützt. Gabriela Pozzi ist eine sogenannte «Pilotin» und hat den Roboterarm im Rahmen des Cybathlons der ETH Zürich im Herbst 2024 unter Wettkampfbedingungen getestet. Und das erfolgreich: Das Team wurde für sein innovatives, benutzerfreundliches und praxisnahes Design mit dem Jury-Award ausgezeichnet.

Testen in der alltäglichen Praxis

Während die «Pilot*innen» am Cybathlon standardisierte Aufgaben unter gleichen Bedingungen bewältigten, steht nun die nächste Herausforderung an: Wie bewährt sich der Roboterarm im häuslichen Umfeld? Das Forschungsteam plant deshalb, den Roboterarm eine Woche lang bei etwa 15 Menschen mit Tetraplegie zu Hause zu testen. Dabei wird genau dokumentiert, wie praktikabel die Technologie im Alltag ist und welche Verbesserungen notwendig sind. Am ersten Tag der Testphase führen die Proband*innen standardisierte Tests durch, beispielsweise das Aufheben einer Flasche vom Boden. Nach sechs Tagen kommt das Forschungsteam zurück, führt die gleichen Tests wieder durch und misst allfällige Verbesserungen bei der Geschwindigkeit und der Handhabung der Aufgaben. Zusätzlich erhebt das Team mit Fragebögen qualitative und quantitative Daten zur Nutzerfreundlichkeit und zur Gesundheitsökonomie .

Das Projektteam
Das Projektteam mit Aline Christen, Dr. Anja Raab, Julian Rösch, Dr. Raphael Rätz, Barbara Wortmann und Iris de Boer (v.l.n.r.)

Für die Koordination dieser Tests ist Aline Christen verantwortlich. Sie studiert Gesundheitswissenschaften und Technologie mit der Vertiefung Medizintechnik an der ETH Zürich und schreibt ihre Masterarbeit an der BFH. Gemeinsam mit ihrem Team aus Ingenieur*innen und Forschenden aus dem Gesundheitsbereich setzt sie auf einen besonderen Forschungsansatz: den iterativen Prozess. Im Gegensatz zu ähnlichen Studien, bei denen alle Teilnehmenden dieselbe Technologie testen, wird der Roboterarm hier schrittweise optimiert. Falls nötig macht das Team nach jedem Test kleinere Anpassungen. Nach fünf Proband*innen wird das Feedback genutzt, um grössere Verbesserungen am Design und an der Funktionalität anzubringen. Ein Prozess, der sich über mehrere Runden erstreckt.

Schrittweise zu einem optimalen Produkt

«Bei diesem iterativen Prozess können wir schneller auf Fehler eingehen und das Produkt gezielt verbessern», erklärt Aline Christen. Das ist besonders wichtig, da sich Technologien wie Sprach- und Bilderkennung rasant weiterentwickeln. Während iterative Prozesse in der Informatik weit verbreitet sind, sind sie in der Gesundheitsforschung noch selten. Der Nachteil: Die Testergebnisse sind schwer vergleichbar, da sich das Produkt während der Studie stetig verändert. Eine besondere Herausforderung für Aline Christen, die zwischen den wissenschaftlichen Herangehensweisen des Ingenieurwesens und der Gesundheitsforschung balancieren muss. «Aber genau diese Herausforderung macht das Projekt so spannend», sagt sie.

Das Projekt

Das Forschungsprojekt «Entwicklung eines Roboterarms mit und für Menschen mit einer Tetraplegie» wird von den Departementen Gesundheit sowie Technik und Informatik durchgeführt. Die Finanzierung erfolgt über die Schweizer Paraplegiker-Stiftung.

Aline Christen gefällt der innovative und praxisnahe Ansatz der Forschung: «Wir wollen wirklich ein Produkt für den Alltag entwickeln.» So untersucht das Team parallel zur Testphase, wie sich die Technologie marktfähig umsetzen lässt. Eine Herausforderung dabei ist, dass die körperlichen Fähigkeiten der Betroffenen sehr unterschiedlich sein können: Während Gabriela Pozzi den Roboterarm mit ihren Fingerknöcheln über das Tablet steuert, sind andere Betroffene auf die Sprachsteuerung angewiesen. Der Roboterarm muss also unterschiedlichen Ansprüchen gerecht werden, um wirtschaftlich realisierbar zu sein.

Für Aline Christen stellt die Arbeit mit Menschen, die starke körperliche Einschränkungen haben, einen faszinierenden Kontrast zu ihrem eigenen Alltag dar. Neben ihrem Studium ist sie als Sportlehrerin tätig und spielt Fussball beim FC St. Gallen. «Es ist bereichernd zu erleben, wie Menschen ihr Leben aktiver gestalten können, wenn Barrieren abgebaut werden», erzählt sie. Umso mehr freut sie sich auf die nächsten Tests im häuslichen Umfeld – und auf ein Wiedersehen mit Gabriela Pozzi, die den Roboterarm erneut in der Praxis erproben wird.

Neue Wege im Gesundheitswesen

Das Schweizer Gesundheitssystem steht vor Herausforderungen, die mutige neue Wege erfordern. In einer Reihe von Beiträgen präsentieren wir Forschungsprojekte der Berner Fachhochschule, die praxisorientierte Lösungen entwickeln – von innovativen Versorgungsmodellen über digitale Assistenzsysteme bis hin zu nachhaltigen Finanzierungsansätzen.

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